4. Mai 2019: Dritte Literaturtagung auf Schloss Trumau – Der Turmbau zu Babel

Die Lesbarkeit der Wirklichkeit

Eine Literaturtagung in Trumau sieht den Turmbau zu Babel als Deutungsschlüssel moderner Verwirrungen. Von Stephan Baier

Ist die Wirklichkeit für uns lesbar? Und warum misslingt das immer wieder? Warum trifft oder verfehlt unser Sprechen die Wirklichkeit? In solchen Fragen verdichtet sich das Interesse der drei Literaturtagungen, die die Literaturlehrerin und Autorin Christine Wiesmüller am „Internationalen Theologischen Institut“ (ITI) in Trumau organisierte. Eine erste Tagung postulierte die Lesbarkeit der Schöpfung, weil sich der schöpferische Logos in der Wirklichkeit ausdrückt, eine zweite beleuchtete die Antwort des Menschen auf die Lesbarkeit der Schöpfung. Die dritte Tagung rückte am vergangenen Samstag nun den Turmbau zu Babel, die anhaltende und immer neu zu erfahrende Sprachverwirrung unter den Menschen, in den Blick.

Die Conclusio lieferte der Rektor der Hochschule Trumau, Christiaan Alting von Geusau, gleich zu Beginn: „Was in Babel angefangen hat, setzt sich heute fort“, nämlich das Auseinandertreiben von Wort und Wirklichkeit. Sprachverwirrung und Ideologie gingen Hand in Hand, um eine neue Wirklichkeit zu erschaffen. Stets würden soziale Umbrüche durch Sprachänderungen eingeleitet. Heute sei die ideologisch inspirierte Sprachverwirrung tief in das tägliche Leben eingedrungen. An etlichen aktuellen Beispielen – etwa „Fristenlösung“ und „Schwangerschaftsabbruch“ als Chiffren für die geplante Tötung ungeborener Menschen – zeigte der Rektor, wie eine neue und verwirrende Sprache als Mittel ideologischer Deutung verwendet wird.

Letztlich werde die Ideologie jedoch an der Wirklichkeit selbst scheitern: „Die Natur können wir nicht ändern. Wenn man die Sprache der Natur ignoriert, kommt man selber zu Schaden.“ Auch die Sprache müsse also das respektieren, was Papst Benedikt XVI. in seiner Berliner Bundestagsrede als „Ökologie des Menschen“ bezeichnete. Christiaan Alting von Geusau rief dazu auf, der Sprachverwirrung der Jetztzeit mit der Vernunft entgegenzutreten: „Die Sprache der Natur, Gottes Vernunft, ist die einzige Alternative zur neuen babylonischen Sprachverwirrung.“

Bernhard Dolna, Judaist, Theologe und Dekan der Hochschule Trumau, deutete die biblische Turmbauerzählung (Genesis 11,1–9) anhand des hebräischen Textes: Zunächst finde die ganze Erde im Wort Gottes ihre Einheit. Dann aber wolle der Mensch nicht länger vom Geschenkten abhängig sein und bescheide sich nicht mehr mit der Erde. Er versuche, sich die Welt selbst zu machen, mit einem Turm gegen den Himmel – und beabsichtige, sich damit einen Namen zu machen, ohne Bezug zu Gott. Am Ende dieses gottlosen Unterfangens stehe „Babel“, die Stadt der Verwirrung und des Chaos. Die Vermessenheit des Menschen ende im Verlust der verbindenden Sprache und der Kommunikationsfähigkeit. Die Stadt, und damit die Einheit des Menschen ohne Gott, werde darum nicht vollendet.

Die Zielverfehlung (Sünde) der Erbauer bestehe darin, die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf verkannt zu haben, so Dolna. Er zitierte einen Rabbiner mit den Worten: „Babel war das erste totalitäre Regime.“ Weil sie den Göttern gleich sein wollten, hätten die Menschen versucht, ihren eigenen Kosmos zu schaffen, ja sich eine Wohnstatt im Himmel zu erbauen. „Wenn Menschen mehr als Menschen sein wollen, fallen sie schnell unter das Niveau des Menschseins“, so Dekan Dolna. Die Selbstzerstörung des Menschen werde durch jene Demut vor der Schöpfung verhindert, die die Erde unter der Souveränität Gottes belasse.

„Die Frage nach der Sprache ist die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens“, meinte der Heiligenkreuzer Zisterzienserpater und Philosoph Dominicus Trojahn. Diese Frage könne für den Menschen nicht irrelevant sein und werde auch weiter gefragt werden, „obwohl alles, was wir finden, diesen Sinn zu bestreiten scheint“. Unabweislich sei die Frage nach dem Sinn, weil „wir eine Erinnerung an den Sinn in uns tragen, auf Sinn hin codiert sind“. Weil aber alle Menschenwirklichkeit von Mortalität – und damit vom Nicht-Sein-Sollen – bedroht ist, sei die Befreiung von der Idee des Todes die Grundlage für die Idee des Lebens. Es gelte also, den Grund des menschlichen Sein-Sollens aufzuspüren.

Pater Dominicus Trojahn bezeichnete die Theodizee-Frage als „theologische Zumutung“: Dem Mythos sei es nicht möglich, Gott die Schuld zu geben, sondern er verorte die Schuld stets beim Menschen. So auch die vier mythologischen Sündenfall-Erzählungen des Buches Genesis vom Sündenfall der Stammeltern, vom Brudermord des Kain, von der Sintflut und vom Turmbau zu Babel. Sie alle erzählten den Grund dessen, was wir erfahren, so der Zisterzienser.

Daran anknüpfend meinte die Literaturlehrerin und Autorin Christine Wiesmüller, die Auswirkungen dieser vier biblischen Sündenfallberichte seien in die Geschichte des Menschen eingeschrieben: „Die Trennung von Wort und Wirklichkeit ist eine Folge des Sündenfalls.“ Sie beruhe auf der Trennung des Menschen von Gott und von sich selbst. „Es geht ein Riss durch den Menschen.“ Dass im Ursprung „die ganze Erde eine Sprache“ hatte (Gen 11,1) besage eine ursprüngliche Deckungsgleichheit von Wort und Wirklichkeit. Die Hybris des Turmbaus bestehe nun darin, dass der Mensch meine, sich das verlorene Paradies selbst nehmen zu können. Er sei jedoch ein Angewiesener, der nicht selbst nehmen könne, was er verlor.

Die Verwirrung der Sprachen bedeute, dass „Dingwirklichkeit und Wortwirklichkeit auseinanderfallen“. Neben der Heilsgeschichte vollziehe sich als Parallelbewegung die Geschichte der Trennungen und Spaltungen. An mehreren literarischen Beispielen zeigte Wiesmüller die „Dynamik des Unheils“, die sich entfalte, wo Untrennbares getrennt wird. So habe Siegfried den Nibelungen-Schatz durch Mord an sich gerissen und damit alles später folgende Unheil ausgelöst, weil er nicht erkannte, dass der Schatz unteilbar ist. Wiesmüller referierte aber auch moderne Beispiele zu Unheil aus Zerfall und Trennung, wie Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“, Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ und Samuel Becketts „Warten auf Godot“.

Die „babylonische Grundverfassung des Menschen“ deutete der Germanist und Literaturhistoriker Christoph Fackelmann als Streben nach Größe und Schöpfertum des Menschen. Babel stehe dafür, dass Menschen einander nicht verstehen können und sich doch verständigen müssen. „Dass das Fragment zum Ganzen findet, geht über Sprache – beladen mit der babylonischen Crux“, so Fackelmann, der anhand von Gedichten von Francis Thompson, Josef Weinheber, Karl Kraus und Reinhold Schneider die Kraft wie die Anmaßung des Sprachkunstwerks aufzeigte.

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